„90-50-90“ kostümkundlich betrachtet !


by Annemarie Bönsch


„Ihre Armspange könnte ihr Gürtel sein“ ist im Bazar vom 11. März 1865 zu lesen. Dies ist zugleich Wunschvorstellung und Hemmschuh der Damenmode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Ansätze, die einer Demokratisierung der Mode und der Modeerscheinung einer sich emanzipierenden Frau dienlich sein konnten, mußten zwangsläufig an dieser überschlanken Taillenvorstellung scheitern.

Auf weite Sicht blieben diese Mißerfolge jedoch nicht ohne Wirkung. Es bedurfte eben gewaltiger Anstrengungen, diese alteingesessene Silhouette dem neu aufkeimenden modernen Welt- und Menschenbild anzupassen. Dazu wäre anzumerken, daß diese „böse“ Kontur der Frau weder willkürlich erfunden ist, noch jemanden aufgezwungen wurde. Daß diese, für das gesamte neuzeitliche Europa (seit 1500) so typische, Miedersilhouette auch nicht abrupt verändert werden konnte, versteht sich von selbst. Denn in der Mode gibt es die oft zitierten sprunghaften Veränderungen, die ein Extrem in das andere verwandeln könnten, nicht.

Die Frau konnte das Korsett nicht einfach von sich schleudern und diesem als knabenhafte schlanke Garconne entsteigen! In diesem Zusammenhang muß davor gewarnt werden, heutiges Silhouettedenken, auf historische Miedersilhouetten applizieren zu wollen. Auf diese Weise müßte es unweigerlich zu Fehleinschätzungen vergangener Moden kommen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte man schlußendlich – kostümkundlich gesehen – das Pech oder auch das Glück in die Endphase der „Miederanschauung“ der Frau hineingeraten zu sein. Bewußt oder auch unbewußt führte man den Kampf gegen althergebrachte Formen, die direkt oder auch indirekt nur schrittweise abgebaut werden konnten, um durch Neues ersetzt zu werden.

Der formale Kampf konzentrierte sich vorerst auf das Rockvolumen. Das große Rockvolumen ist, wie das Mieder selbst, unverzichtbarer Bestandteil jeder Korsettsilhouette. Die Zielvorstellung eines eng eingeschnürten Frauenoberkörpers wird gleichsam erst durch einen weiten und engen Rock perfektioniert, wie uns die europäische Kostümgeschichte seit Beginn der Neuzeit lehrt. Die rasche Abfolge neuer Rocksilhouetten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann sozusagen als intensive Suche nach Dezimierungsmöglichkeiten für das Rockvolumen, zunächst nur in der Breitendimension – gewertet werden.

Als Verzögerungsfaktor muß allerdings die neu aufgestiegene reiche Bürgerschicht angesehen werden, die ihr modisches Image verständlicherweise nach oben und nicht nach unten auszurichten trachtete: Königinnen und Kaiserinnen waren gerade gut genug, um als Vorbild zu dienen. Sissi mußte z.B. ihren Namen für ein Rockraffungspatent herleihen: „Elisabeth-Kleiderhalter“ zu bedeutend billigerem Preis als die erst aus Paris angekommenen „Porte-jupe imperatricè“ (Anm.: hier ist Kaiserin Eugenie gemeint) ist als Werbung in der „Wiener Eleganten“ vom 1. März 1859 zu lesen. Versteht sich, daß die Überdimensionierung des Rockes – dem Adel gleichsam entrissen – vom Bürgertum vorerst kräftig ausgekostet werden mußte.

Die neue technische Lösung der Rockaufblähung durch die Stahlfederkrinoline (erfunden um 1855), machte zudem 1865 ein noch nie dagewesenes Rockvolumen möglich. Damit war man an die Grenzen des Tragbaren gestoßen und hatte damit indirekt zum endgültigen Ende der Breitenausdehnung des Rockes beigetragen. Der Ballon war gleichsam geplatzt, und man konnte ihn nie wieder voll aufblasen!

In der Folge blieb die Frau, von vorne und von hinten betrachtet, im Hüftbereich zwar schlank, aber in der Seitenansicht hatte sich das entwichene Luftvolumen in Stoffmassen verdichtet, wie die Tournürsilhouette von 1875 und die Cul de Paris-Kontur von 1885 zeigen. Die zeitlich dazwischenliegende Rockvolumsverminderung mit Hilfe der Küraßtaille (1880), die über die schmale Hüfte hinweg, die Schlankheit bis zu den Knien auszudehnen trachtete, scheiterte an einem einfachen technischen Problem: Die Frauen konnten ihre Beine nicht mehr zum Gehen verwenden!

Der Abbau der 85er Tournüre erwies sich als zäh und konnte erst durch die Erfindung des Glockenrockes bzw. Bahnenrockes einer Lösung zugeführt werden, der allerdings wiederum in den schleppenden, ausschwingenden Säumen der Eiffelturmsilhouette sein vorläufiges Ende fand. Der Kampf gegen die Rocklänge setzte sich noch bis in das 20. Jahrhundert fort. Auch der Formenkampf gegen das Korsett konnte erst im 20. Jahrhundert ausgefochten werden, da man fürs erste mit dem Abbau des Rockvolumens vollauf beschäftigt war.

Trotzdem sei abschließend angemerkt, daß die Reduzierung im Hüftbereich die Maßnahmen für den Korsettabbau vorbereitet haben: denn man konnte schlußendlich nicht die Taille und die Hüfte einschnüren, weil eine schlank geschnürte Taille automatisch die Hüfte hervortreten läßt!